Das Verschwinden der Kühe
Satte Wiesen, drei Kühe: Anna, Isabel und Ursina. Sie waren nicht sonderlich ortstreu, und so blieb mir nichts anderes übrig, als sie einzuzäunen. Ich beschaffte Holzpfosten und speziellen, roten Draht – Zaunlitze wäre der richtige Ausdruck, sagte mir der Händler – und ausserdem einen Viehwächter, also das Elektroteil, das dafür sorgt, dass die Litze Kühe und Menschen zwicken kann. Kaum standen die Kühe in ihrem Hag, begannen die Nachbarn, mir ihr altes Brot zu bringen. Für die Kühe, sagten sie.
Körbeweise verfütterte ich es. Die Tiere schienen über die Abwechslung glücklich zu sein, immer nur Gras, wer mag das schon?
Eines Morgens, als ich wie üblich die Kühe besuchen und ihnen das Brot abliefern wollte, war der Hag leer. Es war sehr still, kein Vogelzwitschern, keine Grillenzirpen, nichts. Nur der Viehwächter tickte. Tagelang suchte ich Anna, Isabel und Ursina, das gesamte Dorf half mit. Vergeblich. Die Kühe blieben verschwunden. Vereinzelt fanden wir Abdrücke ihrer Klauen, auch einen Fladen konnten wir entdecken, er war noch warm. Doch dann verloren sich ihre Spuren.
Traurig kehrte ich ein letztes Mal zum Hag zurück. Er hatte sich völlig verändert. Der Zaun war kein Geviert mehr, sondern die Pfosten waren in zwei Linien so angeordnet, dass sie ein rechtwinkliges Kreuz mit vier unterschiedlich langen Schenkeln bildeten. Vor dem Kreuzungspunkt standen jeweils zwei Pfosten übereinander. Es sah aus wie das Gerüst eines Kubus mit vier Toren. Zögernd ging ich durch eines hindurch. Tick, tick, tick. Ich hörte den Viehwächter, doch konnte ich ihn nicht sehen. Meine Haare standen zu Berge. Funken stoben, über mir knisterte und flüsterte es. Ich schaute nach oben. Im Himmel schwebte ein Kartenhaus aus alten, trockenen Brotscheiben.
Wie von Sinnen lief ich nach Hause, fiel glühend heiss ins Bett. Als nach vielen Wochen das Fieber endlich nachliess und ich wieder zu Bewusstsein kam, beschloss ich, Künstlerin zu werden und mein bisheriges Leben als Hausfrau an den Nagel zu hängen. Meine Karriere war steil und rasant. Ich arbeitete in New York, Paris und Hongkong, stets unterstützt von einem grossen Stamm an Mitarbeitern. Obama, der Dalai Lama und Madonna luden mich zu Empfängen, Vogue, Vanity Fair und Forbes setzen mich auf den Titel, die Tate, das Guggenheim und das Centre Pompidou widmeten mir umfassende Werkschauen. Ich schwamm im Geld.
Erst Jahrzehnte später kehrte ich wieder zurück in mein Dorf. Der Hag war inzwischen zu einem Wallfahrtsort geworden. Täglich pilgerten Tausende zu ihm, warteten in langen Schlangen, um sich für wenige Momente in das Zentrum des Kubus zu stellen, es funkte, knisterte, flüsterte. Über allem schwebte das Kartenhaus aus alten, trockenen Brotschreiben, der Viehwächter tickte. Ich blieb nur kurz und kehrte nie wieder zurück.
Suzann-Viola Renninger