Lisme! Immer lisme!
Als Kind hörte ich zum Leidwesen meiner Mutterwohl tausend Mal eine Kasperlikassette: Die zarte Prinzessin Sydefädeli ist die Gefangene des schrecklichen Riesen Grochsi. Sie muss ihm ganze Badewannen voll Gaggo (Kakao) machen und ihm einen Schal stricken, der natürlich ungefähr so lang ist wie von Örlikon nach Honolulu und wieder zurück. Sie strickt und strickt an diesem unendlichen Schal und ruft immer wieder verzweifelt aus: Lisme! Immer lisme! Das konnte ich gut nachvollziehen, denn ich hatte gerade gelernt zu stricken. Stricken ist Frauensache, das scheint selbstverständlich, und es ist Maschinenarbeit, das ist heute noch selbstverständlicher, denn selbst etwas zu stricken ist keine alltägliche Notwendigkeit mehr, sondern ein Hobby.
Aber einen Woll- oder Garnfaden mit Hilfe zweier Stäbchen geduldig und mit immer derselben Bewegung so zu legen, dass eine Fläche oder eine dreidimensionale Form entsteht, mit Ausdauer, Liebe, Aufmerksamkeit, oder auch gelangweilt und ungeduldig einen Vorgang wiederholen und wiederholen und sukzessive, Schritt für Schritt, und mit der Zeit ein Ding herstellen, das ist die Metapher für das Leben. Lisme, immer lisme: Wir stricken an unserem Lebensgewebe, an unserem Lebenstext. Wir bewegen uns entlang immer wieder neu definierter roter Fäden, knüpfen Sinnzusammenhänge, weben und stricken auch an unserem Beziehungsnetz. Erkenntnis kann man vielleicht nur sukzessive gewinnen und ab und zu müssen wir wie Theseus entlang des Garnfaden von Ariadnes Knäuel aus den Labyrinthen des Alltags zu entkommen versuchen. „Leben heisst Strumpfhosen stricken“ ist der Titel einer Arbeit der deutschen Künstlerin Rosemarie Trockel, die unter anderem mit gestrickten Bildern und Objekten berühmt wurde.
Auch Brigitt Lademann beschäftigt sich seit Ende der 80 Jahre mit der Welt der weiblich assoziierten Welt des Haushalts und Kochens. Da blasen etwa Staubsauger Kunststoffhüllen auf, da lagert Zucker in verschieden Karamellisierungsgraden in Blechen – eine Farbpallette von Weiss über Gelb, Braun zu Schwarz -, da gibt es eine Arbeit mit fruchtkuchen oder da wäre noch ihre aus rund 90 verschiedenen Fertig-Buchstabensuppen bestehende Arbeit „Bildungssuppe“ zu nennen, die Geschichten, Sprüche und Liedtexte aus ihrer (und unserer) Kindheit und Jugend aufnimmt. Lademann kreiert Installationen, die mit genauem Blick und Sinn für Absurditäten die repetitiven, doch existentiell notwendigen Arbeiten des Alltags untersuchen. Dabei geht es ihr auch darum, Strukturen, Linien, Farben und Formen, die offensichtlicher in Zeichnungen und Gemälden ein Thema sind, mit den Gegenständen des Haushalt und Küche sichtbar zu machen und damit Geschichten zu evozieren. Materialien quer zu ihrer festgelegten Verwendungsart einzusetzen und sie damit zur Diskussion zu stellen, ermöglicht es, etwas über die gesellschaftlichen Vereinbarungen zu erzählen, die mit ihnen verbunden sind. Darüber hinaus verschafft dies einen neuen Blick auf ihre sinnlichen Qualitäten, seien das nun Staubsauger, Zucker, Fruchttorten oder Wolle. Und plötzlich entwickeln die gewöhnlichen, gedankenlos benutzten Alltagsgegenstände märchenhaften Zauber, zeigen ihre philosophische und ihre komische Seite.
Seit einiger Zeit arbeitet Brigitt Lademann nun an grossen, gestrickten Objekten. Parallel dazu entstehen am Computer gewissermassen Strick-Zeichnungen: Mit einem Faden zu stricken, ist nicht weit vom Zeichnen mit einer Linie entfernt. Masche an Masche zu fügen, Strich an Strich zu legen, hat verwandten seriellen Charakter. Wie die Maschen sind die Buchstaben aneinander zu reihen und ergeben erst in der Reihung Sinn und Form. Beim eigens für „entwürfe“ gemachten Beitrag hat Brigitt Lademann nun mit dem Computer eine Zeichnung gestrickt und wie es sich für eine richtige Wollsache gehört, sind Vor- und Rückseite übereinstimmend. Von der Fläche zoomt der Blick immer näher heran an die einzelnen Schlaufen und Maschen, bis diese zum Symbol und einzelnen Zeichen werden: wie die einzelnen Buchstaben in einem Textgewebe.
Nadine Olonetzky