Bildungssuppe

36

Galerie Römerapotheke, Zürich
12. Dezember 2003 bis 14. Februar 2004

„Bildungssuppe“ ist eine Sammlung von nicht vergessenen Texten aus der Kinder- und Jugendzeit, gut verdaut und Horizont bildend. Hier als Fertigsuppe aufbereitet.
In jedem der 92 Beutel finden sich die aufgedruckten Texte in Form von Teigbuchstaben wieder.

Videostills

In der Bildungssuppe geschmort

Figugegl?! Oder vielleicht: Unser Leben gleicht der Reise eines Wandrers in der Nacht…? Oder eher: Wo trafst du auf die Komantschen? Ob Fonduewerbung, das Beresina-Lied oder Karl May: Die Kindheit und Jugend ist voller Geschichten, Sprüche, Lieder und Märchen. Sie wurden erzählt und vorgelesen, wir haben ihnen gebannt gelauscht, sie selbst gesungen, gelesen und aufgesagt (für den Sankt Nikolaus, o Schreck, die Grosseltern und die Lehrerschaft), wir haben sie am Radio gehört, im Fernsehen gesehen und in den Bilderbüchern fasziniert die Zeichnungen dazu betrachtet. Heute ist manches vergessen – und doch unvergesslich: Zusammen bilden sie eine Geschichtensuppe, die zeitlebens die Vorspeise für sämtliche weiteren literarischen und musikalischen Hauptgänge und Nachspeisen bleiben wird. Aazelle, Bölle schelle, d Chatz gaht uf Walliselle…Der Wind, der Wind, das himmlische Kind und Rapunzel mit ihrem Haar, Grosser Gott, wir loben dich und Jim Knopf, Pippi Langstrumpf und später: Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden, dass er nichts mehr hält…

Brigitt Lademann, 1958 geboren, in Hamburg zur Bühnenbildnerin und an der HGK Zürich zur Künstlerin ausgebildet, hat sich in verschiedenen Werken mit der Welt des Haushalts, der Küche, des Kochens und der Nahrung auseinandergesetzt. „Bildungssuppe“, ihre aus rund 90 verschiedenen Fertig-Buchstabensuppen bestehende Arbeit, nimmt die Geschichten, Sprüche und Liedtexte der Jahre 1958 bis 1973 auf, an die sie sich erinnern kann. Präsentiert in Form von Fertigsuppen,als potenzielle Nahrung im physischen Sinn also, stellt Brigitt Lademann die Verbindung mit dem Nährwert, den die Geschichten und Lieder auf der immateriellen Ebene haben, wieder her. Was wir alle bereits in geistigem Zustand geschlürft und inzwischen längst verdaut haben, taucht aus dem kollektiven Geschichtenreservoir wieder auf. Es sind nicht nur bekannte Märchen-, Lied- und Jugendbuchtexte in diese Suppensammlung aufgenommen, auch die von Brigitt Lademanns Grossvater und Vater kreierten oder kolportierten Sprüche könn(t)en ausgelöffelt werden: Ich flöhe se an, bitte treten se läuse auf zeigt, dass in jeder Familie gewisse Redeweisen besonders geläufig sind. Ob literarisch hochstehend oder nicht, ob je überprüfbar oder nie mit der Wirklichkeit zu vergleichen: Der hierzulande deutsche und schweizerdeutsche Geschichten- und Liederschatz, der von den Älteren an die Jüngeren erstaunlich konstant weitergegeben wird, prägt die Vorstellunen über die Erde und den Himmel, andere Länder und Völker und uns selbst entscheidend mit.

„Bücher lehren uns, über Dinge zu sprechen, von denen wir nichts verstehen“, meinte Jean-Jacques Rousseau einmal. Oder: Haben Sie schon einmal ein Iglu gesehen? Ein richtiges aus Schnee und Eis, eines im fernen Grönland? Trotzdem der dreidimensional-wirkliche Eindruck fehlt – und vielleicht immer fehlen wird – , ist das Aussehen des Iglu ein fester Bestandteil der Bildung, der Bildungssuppe mithin, in der wir geschmort wurden. Die zweite Arbeit, die Brigitt Lademann ausstellt, beschäftigt sich den auch mit denjenigen Phänomenen, die in unserer Vorstellung existieren, weil wir Geschichten gehört und Bücher gelesen haben: Ufos oder die prototypische romantische Ruine. Mit Teigbuchstaben aus den Sätzen literarischer Texte konstruiert, etwa von Stanislaw Lem oder Charlotte Brontë, bilden die fragilen Objekte kleine Memento-Stationen. Erinnert wird an die Brüchigkeit der Vorstellungen, die wir uns von allem Möglichen und Unmöglichen machen.

Nadine Olonetzky